Letzte Zuflucht:
Warum die indigenen Völker Amazoniens am Rand des Verschwindens stehen
Im dichten, feuchtgrünen Labyrinth des Amazonas leben noch Menschen, die nie einen Außenstehenden gesehen haben. Ihre Welt besteht aus Flüssen, Pflanzen, Lichtungen und der Sprache des Waldes – einem Ökosystem, das seit Jahrtausenden ihr Zuhause ist. Doch diese naturverbundene Leben wird bedroht: Laut einem aktuellen Bericht der NGO Survival International könnte fast die Hälfte aller heute bekannten unkontaktierten indigenen Gemeinschaften innerhalb der nächsten zehn Jahre verschwinden. Welch alarmierende Botschaft und zugleich ein Weckruf an unsere Gesellschaft, dieses nicht geschehen zu lassen.

Ein stilles Sterben im Schatten der Kettensägen
Abholzung, illegaler Bergbau, neue Straßen, Ölförderung und selbst Tourismusprojekte dringen immer tiefer in Regionen vor, die bislang als unzugänglich galten. Die Konsequenzen sind verheerend. Jede Schneise, die sich in den Regenwald frisst, bedeutet nicht nur den Verlust von Lebensraum, sondern auch das Eindringen von Krankheiten, Gewalt und Umweltgiften in bisher isolierte Lebenswelten.
Der Bericht von Survival International nennt eine Zahl, die aufrütteln sollte: Rund 196 sogenannte unkontaktierte indigene Gemeinschaften existieren weltweit noch – 90 Prozent davon im Amazonasgebiet, vor allem in Brasilien. Der Rest verteilt sich auf abgelegene Regionen in Indonesien, Papua-Neuguinea und Indien. Doch etwa die Hälfte dieser Völker ist akut vom Aussterben bedroht, wenn sich die aktuelle Entwicklung ungebremst fortsetzt.
Zwischen den Fronten: Das Schicksal der Kakataibo
Besonders dramatisch zeigt sich die Lage in Peru, wo die Gemeinschaft der Kakataibo in der Region Ucayali unter massivem Druck steht. Illegale Holzfäller und Kokabauern dringen in ihre Gebiete ein, während staatliche Schutzmechanismen bröckeln.
„In Peru hebt die Regierung die Gesetze auf, welche die Rechte der indigenen Völker schützen“, sagt Herlin Odicio, Vertreter der Kakataibo, der selbst teils im Kontakt mit der Außenwelt lebt. Seine Worte klingen verzweifelt, aber bestimmt: „Wir bitten die Regierungen um keinen Gefallen. Es geht um ein uraltes Recht – das Recht zu existieren.“
Odicio ist einer von wenigen Stimmen, die zwischen zwei Welten vermitteln. Während er mit NGOs und Behörden verhandelt, verschwinden die Spuren seiner abgeschiedenen Verwandten immer weiter im Dunst der Abholzung.
Das Schweigen der Staaten
Offiziell erkennt das Völkerrecht das Recht indigener Völker auf ihr Territorium und ihre Lebensweise an – inklusive der Entscheidung, ohne Kontakt zur Außenwelt zu leben. Doch laut Survival International bleibt die Umsetzung in vielen Ländern „lückenhaft oder willkürlich“.
In Brasilien etwa hat die Regierung in den vergangenen Jahren zahlreiche Schutzmaßnahmen geschwächt, um wirtschaftliche Interessen zu fördern. Bergbau- und Agrarkonzerne drängen in Schutzgebiete, oft unter stiller Duldung staatlicher Stellen.
Schutzzonen als letzte Hoffnung
Survival International fordert nun die Einrichtung unantastbarer Schutzzonen, in denen kein wirtschaftlicher Eingriff erlaubt ist. Diese Gebiete sollen die Lebensräume der unkontaktierten Gemeinschaften rechtlich absichern – und damit den letzten noch bestehenden Inseln menschlicher Unabhängigkeit eine Überlebenschance geben.
Doch Zeit ist ein Luxus, den diese Völker nicht mehr haben. Der Regenwald schrumpft täglich, und mit ihm verschwinden Sprachen, Mythen und Wissen, das nie dokumentiert wurde.
Mehr als ein Menschenrecht
Die bedrohten unkontaktierten Völker sind nicht nur Opfer der Globalisierung – sie sind Hüter der biologischen Vielfalt, die unsere Erde stabil hält. Ihre Lebensweise schützt Wälder, Böden und Wasserläufe, von denen das globale Klima abhängt.
Ihr drohendes Verschwinden ist deshalb nicht nur eine Tragödie für sie selbst – es ist ein Verlust für uns alle.
„Die unkontaktierten Völker sind die letzte Erinnerung daran, dass eine andere Art zu leben möglich ist“, sagt Caroline Pearce, Geschäftsführerin von Survival International. „Wenn sie verschwinden, verlieren wir nicht nur Menschen – wir verlieren Zukunft.“
Was wir tun können
Der Schutz unkontaktierter indigener Völker beginnt mit Respekt – und mit politischem Druck. Internationale NGOs, Aktivistinnen und Aktivisten, aber auch Konsumentinnen und Konsumenten können entscheidend dazu beitragen, dass ihre Lebensräume unangetastet bleiben. Transparente Lieferketten, Boykotte illegaler Rohstoffe wie Gold, Soja oder Tropenholz aus Konfliktregionen und die Unterstützung seriöser Organisationen wie Survival International, Rainforest Foundation oder Amazon Watch sind konkrete Wege, Einfluss zu nehmen. Ebenso wichtig ist die Arbeit an der Basis: Schulungen für lokale Behörden, juristische Begleitung indigener Vertreter und internationale Aufmerksamkeit durch Medien und Netzwerke. Jede Petition, jede Spende und jede Stimme, die den Erhalt der Schutzgebiete fordert, erhöht den Druck auf Regierungen und Konzerne. Denn letztlich entscheidet das weltweite Engagement darüber, ob die letzten unkontaktierten Völker in Freiheit weiterleben – oder nur noch als Fußnote in einem Bericht über ihr Verschwinden existieren.
NGOWork Kommentar:
Die Forderung nach unantastbaren Schutzzonen ist mehr als ein Appell. Sie ist ein Zeichen dafür, ob die Welt bereit ist, das Überleben der letzten freien Natur-Gesellschaften über kurzfristige Profite zu stellen. In den kommenden zehn Jahren wird sich zeigen, ob wir diese Herausforderung bestehen konnten.